Für mich beginnt um 18:00 Uhr ein Abend mit den Klassiklegenden Johannes Brahms, Dmitri Schostakowitsch – und der Stadthallenikone Brigitte Sawatzki. Werde bereits am Empfangstresen mit einem breiten Grinsen von der Stadthallenkollegin Margarethe Wieczorek begrüsst: die Spülmaschine ist kaputt! Just an dem Tag, an dem ich mich neben dem Kulturprogramm für den Spüldienst in der Stadthallenküche habe eintragen lassen. Sehe mich bereits die schweren Töpfe, angebrannten Pfannen und saucenüberlaufenden Teller mit der Hand schrubben und spülen. Kann mein „Glück“ kurzzeitig kaum glauben und erinnere mich dann an meine Kochausbildung, bei der ein Dienst an der überquellenden Spülmaschine fast meditative Züge hatte. Es geht dann doch weniger dramatisch zu – bis zum Beginn des neunten Sinfoniekonzertes, welches an diesem Dienstagabend in der Stadthalle stattfinden wird.
Werde jener Dame vorgestellt, die seit 1988 die Spüldienste in der Stadthalle übernimmt: Brigitte Sawatzki ist wohl eine der dienstältesten Mitarbeiter:innen im Haus und hat unter allen Geschäftsführern gearbeitet, die im Hause tätig waren! Sofort sind wir von Mitgliedern des heutigen Servicepersonals umringt und alle stimmen in den Chor mit ein: Brigitte Sawatzki ist eine weitere gute Seele im Haus. Bestens vertraut mit den Geschehnissen in der Küche, immer freundlich und lächelnd und, vor allem, jederzeit hilfsbereit. Diese Hilfsbereitschaft wird besonders von jungen Mitarbeiter:innen geschätzt, die sich erst im Umfeld eines Großküchenregiments zurecht finden müssen. Brigitte Sawatzki nimmt die „Neuen“ gerne an die Hand – mich auch. Mein Dienst beginnt mit einer Portion vom Personalessen: eine anständige Currywurst – geht immer.
Wir unterhalten uns über die Stadthallenjahre. Die Geschäftsführer:innen. Den Personalwechsel nach der Coronazeit. Die alten Kolleg:innen. Brigitte Sawatzki erinnert sich auch noch an die „Ein seltsames Paar“-Aufführungen, an denen ich 1998 als Vinnie in der Pokerrunde mit Peter Pietzsch und Dr. Peter Schütze mehrfach auf der Stadthallenbühne mein Schauspieldebüt gab. Die Fachfrau bestätigt mir, dass die große Winterhalter-Spülstrasse aktuell defekt ist. Zum kommenden Montag werden die Fachleute zur Reparatur erwartet. Die Arbeit muss von einer der beiden kleineren Gastrospülmaschinen übernommen werden – was bei dem kleinen Programm heute sehr gut zu realisieren ist! Derweil entspanne ich mich: mich erwartet hier heute kein anstrengender Dienst in der Spülküche.
Meine Currywurst-Schale spüle ich jedoch brav mit der Handbrause aus und lege sie in den Maschinenkorb, der kurz danach seine dreiminütige Wascheinheit erhält. Alles weitestgehend vollautomatisch! Einmal am Tag notiert Brigitte Sawatzki die Wassertemperatur der Maschine und protokolliert diese. Entsprechende Aufzeichnungen werden sinnvollerweise in einem Bürokratiestaat abgeheftet und sind jederzeit irgendwelchen Kontrollbehörden vorzulegen. Um 19:20 Uhr verlasse ich die Kollegin, genehmige mir im Foyer noch eine Rhabarberschorle und werde vom Servicepersonal ausgelacht, weil ich bei der Bestellung auf ein Extra-Glas verzichte! Man unterstellt mir, dass ich nur weniger spülen möchte…
Finde in Block B, Reihe 2, Platz 17 meinen Platz für das folgende Konzert. Auf dem Weg dahin sehe ich viele „alte“ Bekannte. Das Publikum bei den Sinfoniekonzerten ist das Alte geblieben – aber die Generationen wachsen nach! Plaudere später mit dem früheren Bundestagsabgeordneten René Röspel über diesen Ist-Zustand: auch wir, näher am Seniorenpass als an der TwenTour (wie es Stefan Stoppock besingt) sind bereits die „neuen Alten“!
Der Anfang verzögert sich etwas, aber das Publikum ist ebenso geduldig, wie das Philharmonische Orchester. Mit zehnminütiger Verspätung kommen der scheidende Generalmusikdirektor Joseph Trafton und der Gast des heutigen Abends, Frank Peter Zimmermann, auf die Bühne. Der gebürtige Duisburger Zimmermann ist glücklich, mal wieder in der Heimat zu spielen. Habe das Gefühl, dass die Currywurst als Personalessen kein Zufall war?! Auf seiner „Lady Inchiquin“-Stradivari spielt Zimmermann furios das Violinkonzert D-Dur op.77 von Johannes Brahms. Es ähnelt fast einem Tanz mit dem Generalmusikdirektor. Mich fesselt das Stück eher durch die Ankündigung im Begleitheft. Brahms schrieb das Werk 1878 in Pörtschach am Wörthersee – dem familiären Urlaubsort meiner Kindheit. Ärgerlich, dass beim Solopart des Stargeigers im Publikum mehrfach das Kurznachrichtensignal eines Mobiltelefons zu vernehmen ist. Störende Begleitgeräusche, die es bei dieser Virtuosität zu vermeiden gilt. Es ist beispielsweise vertraglich geregelt, dass die Spülstrasse während eines Sinfoniekonzertes nicht zu bedienen ist. Auch das Personal im Foyer hat sich besonders ruhig zu verhalten. Gut, dass die Mitarbeiterschaft diesen Anforderungen gut und gerne entspricht – ärgerlich, wenn Wenige des zahlenden Publikums den Alltag nicht vor der Tür lassen können.
Das Hagener Orchester und Frank Peter Zimmermann spielen die drei Teile des Brahms`schen Violinkonzert in 40 Minuten. Zum gelungenen Abschluss fallen sich Zimmermann und Trafton zufrieden und glücklich in die Arme. Das Hagener Publikum hat einen furiosen Auftritt erlebt – und bedankt sich mit BRAVO!-Rufen, stehendem und langanhaltendem Applause und dem obligatorischen Blumenstrauß für den Gast. Dieser bedankt sich mit einer dezenten Zugabe: der vertonten Ballade von Goethes Erlkönig – nach Franz Schubert.
Pause. Mein Weg führt mich direkt wieder zu Brigitte Sawatzki in die Spülküche. Hier herrschte Ruhe während der Bühnendarbietung. Aber auch jetzt ist kein Grund zur Hektik. Aus dem Foyer sind von den Servicekräften nur ein paar Gläser hereingebracht worden. Diese sind schnell weggespült und weggeräumt.
Rede mit Brigitte Sawatzki über die Arbeitszeiten – und die Möglichkeiten, zum späten Feierabend nach Hause zu kommen. Die Stadthallenerfahrene lächelt: zwar gäbe es einen Bus in das heimatliche Hohenlimburg oder auch Kolleg:innen, die einen durchaus mit dem Privatwagen mitnehmen würden, aber prinzipiell würde sie ihren Mann anrufen, der sie dann gerne mit dem Auto abholen würde. Zu jeder Zeit. Echte Liebe.
Nach der Pause folgt die Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93 von Dmitri Schostakowitsch. Der Star ist hier das orchesterhagen, unter der Leitung von Maestro Joseph Trafton. Es ist sein vorletztes Sinfoniekonzert als Hagener Generalmusikdirektor. Trafton lässt seinen Musikern ausreichend Platz für eine fulminante Sinfonie, die der Komponist im Nachklang auf die düsteren Zeiten der russischen Stalin-Herrschaft schrieb. Mein Sitznachbar ist mächtig begeistert: das hat mal ordentlich gerumst! – ist sein Fazit. Dem kann man nicht widersprechen!
Nach dem Schlussapplaus gehe ich erneut zur Spülküche. Brigitte Sawatzki hat ihren Arbeitsplatz aufgeräumt. Der Gatte ist bereits auf dem Weg zur Halle – die letzten Gläser werden morgen gespült! Eine Hoffnung hat die spülende Küchenhilfe: wenn die Abibälle in wenigen Wochen beginnen, sollte die gute Winterhalter-Strasse wieder funktionieren! Drücke dazu ganz fest die Daumen und sage Danke für das wundervolle Gespräch mit der dienstältesten Stadthallenikone.
Mit diesem Konzertbesuch verabschiede ich mich bereits in die Sommerpause der Stadthalle. Zwar finden noch ein paar Veranstaltungen statt, aber mein nächster Termin ist erst im Herbst 2025: beim Oktoberfest am 10. Oktober. Bis dahin ist die Welt hoffentlich weniger aus den Fugen geraten. Hagen hat bis dahin ein neues Stadtoberhaupt gewählt, das Orchester einen neuen Generalmusikdirektor. Hoffentlich bleibt alles so heiter, wie der gerade beginnende Sommer. Ich freue mich darauf und bedanke mich bei dem Team der Stadthalle für ein lehrreiches erstes Halbjahr als Stadthallenschreiber 2025.