Mein Jahr in der Stadthalle Hagen II
07. Januar 2025, 20:00 h | Rhythm of the Dance – The National Dance Company of Ireland
Bin heute dienstlich unterwegs und daher mit dem Auto frühzeitig an der Stadthalle. Finde einen Parkplatz vor der Gärtnerei meines Vertrauens, führe noch ein, zwei Telefonate im Auto, checke die Mails und bin dann 45 Minuten vor Showtime in der Halle. Auch wenn heute weniger Besucher:innen als beim Neujahrskonzert zu Gast sind (warum eigentlich?), sehe ich mehr Gesichter aus der vermeintlichen Stadtgesellschaft, als am vergangenen Mittwoch.
Bin bei meiner Ankunft dennoch etwas irritiert, da vor dem anliegenden Hotel ein Reisebus mit osteuropäischem Kennzeichen steht. Die Tanzshow ist ja wohl hoffentlich kein, so widerlich modern gewordener, Fake einer nichtirischen Laiengruppe!?
Das grüne Wohnzimmer der Stadt Hagen begrüßt seine Gäste in einer noch grüneren Ausleuchtung. Man ist, auch dank der irischen Instrumentalmusik, gleich in freudiger Erwartung. Unweigerlich spürt man eine positive Grundhaltung und Vorfreude beim Publikum.
Überhaupt – das Publikum: ich besuche oft und gerne Kulturveranstaltungen jeglicher Art. Noch nie war ich mit so vielen Ehepaaren in einem Raum. Die Konstellation lässt vermuten, dass die Tickets für die heutige Veranstaltung ein hervorragendes Weihnachtsgeschenk sind!? Wer beglückt und beschenkt damit wen? Die Herren sahen heute nicht danach aus, als das sie in den Kulturtempel mitgeschleppt werden mussten!
Lese etwas im Programmheft, welches ich am Merchandisestand erworben habe, und weiß bereits zwei Minuten vor dem Beginn, dass der Start kurz bevorsteht. Aus dem Backstagebereich hört man, wie sich die Tanzcompagnie einsteppt.
Das Personal der kommenden zwei Stunden fügt sich charmant auf der Stadthallenbühne ein – zuerst die fünf Musiker und hinzutänzelnd, die Stepper:innen der ‚nationalen irischen Dance Company‘.
Nach 30 Sekunden weiß ich Bescheid: nicht mal annähernd werde ich mich in meinem Leben noch einmal so bewegen können – wenn ich es überhaupt schon jemals konnte.
Das Intro endet in einem ersten Lied der Musiker. Glaube, dass es Zufall ist, dass man in Hagen direkt zum Beginn den irischen (ursprünglich eigentlich englischen) Klassiker der ‚dirty old town‘, der dreckigen, alten Stadt, besingt.
Man hat Zeit, sich mit den Protagonisten auf der Bühne zu beschäftigen – ich weiß nicht, wann ich zuletzt eine solche 1-A-Vokuhila-Frisur gesehen habe, wie sie der Akkordeonspieler trägt. Denke, dass ich mal die Paninni-Sammel-Alben aus den 1970er Jahren hervorkramen muss, um auf eine solche Frise zu stoßen. Apropos 1970er Jahre: diese Stepptanzschuhe, mit ihren klackenden Verstärkungen, erinnert mich sehr an meine Kindheit. Ich meine, dass eine sehr günstige Version mal dem YPS-Heft als Gimmick beigelegen hat.
Die Tänzer:innen und Musiker werden meinen sentimentalen Ausflügen in meine Jugend nicht folgen können. Während im Publikum die Ehepaare der Samstagsabendfamilienunterhaltungsprogramme sitzen, sind wahrscheinlich nicht mal 50 Prozent der irischen Combo vor dem Jahr 2000 geboren. Wetten, dass…?
Die Gedanken schweifen bei der Show, die zwischen schwermütiger Melancholie, der unvermeidlichen Liebe und der glückseligen Feierlaune pendelt. Schon am Ende vom ersten Teil stehen die ersten Zuschauer:innen begeistert auf: es gibt bereits früh stehende Ovationen.
Frage mich in der zweiten Hälfte, ob ich im Publikum der Einzige bin, der bei den Tänzerinnen und Tänzern an den Jahrhundertfilm DIRTY DANCING denkt?! War Patrick Swayze eigentlich auch irischer Herkunft, bevor er sich in das tanzbegeisterte ‚Baby‘ Houseman verliebte? Wer ist denn da auf der Bühne liiert? Geht was zwischen den Solotänzer:innen Jessica Cartwright und Curtis Long? Und, um bei den Gefahren von einem Tourneeleben zu bleiben: wie viele ungewollte Schwangerschaften erschweren eine solche Tanzwelttournee? Zu meinen wichtigsten Fragen finde ich im Programmheft keine Antworten.
Die Compagnie entführt das begeisterungswillige Publikum auf den Weg von Irland nach Südamerika, um sich dem Tango zu nähern. Als die tanzenden Herren ganz in Schwarz gekleidet und ausgeleuchtet zum drängenden Beat die ‚flinken Füße‘ (Eigenwerbung) fliegen lassen, erinnern sie mehr an eine Boygroup im Michael-Jackson-Thriller-Modus.
Gleich dem Opernmotto, dass die Vorstellung erst vorbei ist, wenn die dicke Frau stirbt, scheint es bei RHYTHM OF THE DANCE zum furiosen Finale zu gehören, dass der Solist Long zum Ende das Pailletten-Laibchen zu tragen hat. Die ganze Crew bevölkert die Bühne und jede(r) bekommt ihren/seinen Einzelspot und den verdienten Applause – während auf der Leinwand ein Feuerwerk den entsprechenden Hintergrund gibt.
Inklusive 20minütiger Pause ist die Show nach genau zwei Stunden vorbei – und ich bin glücklich. Vielleicht (ich bin dafür kein Fachmann) ist die Tanzleistung der Compagnie nicht von durchgehender hoher Fachqualität, ebenso wird das (Halb-?)Playback der Musiker wahrscheinlich auch die letzten Dubliner- & Pogues-Aktivisten ins Grab bringen – ABER ich fühlte mich verdammt gut unterhalten. Ein wirklich schöner Abend, den ich irisch beenden möchte:
Go raibh mile maith agat!
Genau, 1000 Dank an ‚The National Dance Company of Ireland“, die, wie ich auf dem Weg zum Auto feststelle, ihre fünfwöchige Deutschlandtournee wirklich mit dem osteuropäischen Tourbus bereisen.
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