Ich will nicht klagen – aber ich war seit dem Morgen dienstlich unterwegs. Knappe 10 Termine und etliche Telefonate führten mich durch das heimische Stadtgebiet. Die letzten, zielführenden Gespräche über das Mobiltelefon führte ich ab 18:00 Uhr auf dem Parkplatz der Stadthalle. In zwei Stunden wird hier eine gesamte 20-köpfige Big Band (vom Südwestrundfunk aus Stuttgart) auf der Bühne stehen – um einen der bekanntesten deutschen Sänger der letzten Jahre zu begleiten. Ich muss mich korrigieren: – um einen der bekanntesten deutschen Sänger der letzten Jahrzehnte zu begleiten.
Ja, mir sagt Max Mutzke etwas. Die Mutter meiner 25jährigen Tochter himmelte den Mann damals an. Damals – als er 2004 beim Eurovision Song Contest für unser gemeinsames Heimatland in Istanbul antrat. Ich erinnere mich nur, nicht besonders eifersüchtig, daran, dass er damals oftmals bei seinen Auftritten mit geschlossen Augen anzutreffen war. Es ist mir persönlich heute noch ein probates Mittel bei öffentlichen Auftritten. Wir haben also eine Verbundenheit, dieser Max Mutzke und ich. Die Liebe von meiner Ex und die damit geschlossenen Augen.
Vor drei Tagen streifte ich noch durch die Münchner Innenstadt und schaute beim Traditionsunternehmen HUT BREITER herein. Ich bin bekennender Hutträger und nehme dort, auf einer Art Ahnengalerie, wahr, dass Max Mutzke 2022 zum Hutträger des Jahres gekürt wurde. Etwas beneide ich ihn um diese Auszeichnung und sehe eine noch engere Verbindung zwischen uns, als die Zuneigung von der benannten Kindesmutter.
Stehe also, telefonierend, mit einer gewissen Vorfreude auf dem Stadthallenparkplatz. Im Rückspiegel sehe ich, wie ein Tourbus eintrifft – und zwei Shuttlebusse. Der Star des Abends wird wohl alleine vorgefahren, die SWR BIG BAND darf sich den Bus teilen – allerdings noch nicht mal einen Nightliner! Schrecklich, wie mit den Künstlern beim „Öffentlich-Rechtlichen“ umgegangen wird, denke ich schmunzelnd.
Vor einer Woche wurde europäisch die Winterzeit eingestellt. Mir behagt diese Änderung nie. Um 18 Uhr ist es bereits vollständig dunkel. Damit tritt bei mir auch eine persönliche Lethargie ein. Während man in den hellen Sommermonaten am Abend noch den Grill anschmeisst und die Sonnenstrahlen aufschnappt, ist es ab Ende Oktober republikweit üblich, sich ab 18:30 Uhr höchstens vor dem heimatlichen Kamin bequem zu machen.
Die SWR BIG BAND & Max Mutzke schaffen es heute, enorm viele Pärchen vom Kamin wegzuhalten und in die „Grüne Hölle“ zu bitten. Unter den Herren im Publikum sind noch ein paar Aspiranten auf die kommenden Jahre beim Contest des jährlich auszuzeichnenden Hutträgers. Persönlich entschied ich mich für eine relativ flache Schiebermütze. Bei einer anderen Kulturveranstaltung musste ich mir kürzlich, als Hutträger, zwei Stunden Beschimpfungen von einer gequälten Damenwelt anhören, die wohl nur einem Udo Lindenberg das Huttragen in Kultureinrichtungen verzieh. Auch heute wollte ich niemandem den Kulturgenuss verweigern. Es kam anders.
Der Veranstalter wies dem Stadthallenschreiber folgenden, wunderschönen, Platz zu: Block D, Reihe 1, Platz 11.
Ich nahm relativ spät Platz und hörte die Dame in Reihe 2 ungebührliches sagen: „Da ist einmal was los in Hagen…“ (was sie sich nicht zu sagen wagte, ist: …und dann muss dieser korpulente Mann mit Mütze vor mir sitzen!“).
Gnä` Frau, Augen auf beim Kartenkauf!
Nur zur weiteren Information: ich überließ der Seniorin ausreichend Blickfreiheit.
Kurz vor dem Konzertbeginn fällt mir noch meine letzte Begegnung mit Max Mutzke ein: vorige Woche sah ich eine Entschuldigung von ihm auf einem Socialmediakanal – zur Stadtbilddiskussion des Bundeskanzlers Friedrich Merz. Persönlich fand ich in den Worten eine großartige Diskussionsgrundlage für die derzeitige Frage in meiner Heimat, wer denn zur Stadtgesellschaft gehören soll. Max Mutzke verweist dabei auch auf seine Kinder (mit seiner Frau, die ursprünglich aus Äthiopien stammt) und auf den Percussionspieler seiner SWR BIG BAND, Rhani Krija. Rhani Krija tourt mit Sting & Annie Lennox durch die Welt, begleitet BAP, den verstorbenen Klaus Doldinger und Herbert Grönemeyer durch das Heimatland und lebte sogar, wie er charmant erzählt, im benachbarten Witten an der Ruhr. Von dort verschlug es ihn nach Köln. Eine Familiengeschichte, die mir bekannt vorkommt. Ich teile die Auffassung von Max Mutzke und der Internationalität der SWR BIG BAND: Vielfalt…gibt es in Deutschland nicht nur kulinarisch.
Um 20:05 Uhr kommt die „Starting Five“, das Herzstück der SWR BIG BAND, auf die Bühne – Bass, Gitarre, Piano, Schlagzeug und Percussion. Präsentiert vom Big Band- & Tourmanager Hans-Peter Zachary. Er verweist auf das erste Gastspiel in der „Grünen Hölle“, wo selbst Sinupret-Tabletten des kränkelnden Bühnenpersonals vom Hallenfußboden verschluckt werden. Zachary verspricht pausenlose 120 Minuten Big-Band-Soul-Unterhaltung und lobt seine Compagnie als weltbeste Bigband – nicht ganz grundlos. Dem Herzstück folgen fünf Saxophonisten, vier Posaunisten, vier Trompeter, zwei Backgroundsänger…und ganz zum Schluss, um 20.13 Uhr, Max Mutzke. Mit offenen Augen. Schaue dennoch zweimal hin. Zuletzt war ich beim Auftritt vom wundervollen Paul Panzer in der heimischen Stadthalle. Mutzke trägt, gottseidank, einen großen schwarzen Fedora-Verschnitt auf dem Kopf (oftmals als Bogart-Hut benannt), eine helle Hose und ein schwarz/weißes Hawaiihemd, welches Paul Panzer eventuell im Backstagebereich vergessen hatte. Meine Gedanken an die Kleidung vergehen, als der Protagonist des Abends darauf verweist, dass „heute alles anders ist“, und dass es „unsere Nacht und eure Stadt ist.“!
Zu diesem Zeitpunkt stand das Publikum bereits erstmals auf den Plätzen und feierte den Abend mit einem lautstarken HEY HO HEY HO. Bei Mutzkes WELT HINTER GLAS findet das rhythmische Hagen seinen ersten Konzerthöhepunkt. Auf der Bühne sitzen 21 Herren als Bühnenpersonal. Ist Mutzke dem Stadtbildgedanken des Kanzlers doch näher als gedacht? Wo hat die SWR BIG BAND die Weiblichkeit versteckt? Und was macht der Gastgeber da mit dem kleinen Schellenbaum als Rhythmusgerät? Er schwingt es, gleich einer Peitsche! Ich denke an den vermeintlichen „Godfather of Soul“. James Brown…muss nicht mehr überall Vorbild sein.
35 Konzerte umfasst die Tournee. Eine Tour der Glückseligkeit und Dankbarkeit – mit, mehr oder weniger, bekannten Soul-Klassikern. Mutzkes Stimme ist dabei das erweiterte Instrument der Big Band. Er weiß, sein Publikum (vor allem die Weiblichkeit) zu beherrschen. Der Gastgeber kommt mittlerweile ins Plaudern. Der Urlaub des patchworkfamiliären Schwarzwälders in Los Angeles, mit artgerechter Haltung zwischen Blackforrest und Blackmusik im US-Radio, endet mit einer Tarantelbegegnung am Ort des Ablebens von Jimmy Dean. Das man nicht stirbt, wie die Spinne und der junge James Dean, sollte ausreichend Motivation für einen dankbaren Tag sein.
Für mich folgt nach 90 Minuten ein unerwartetes Highlight am Montagabend. Zu der Hymne BEDINGUNGSLOS zeigt Max Mutzke sein spärliches Haupthaar. Den Fedora legt er für dieses Lied ab. Für das weitere Publikum folgt der Höhepunkt zum Konzertende. Max Mutzke verweist noch einmal humorig darauf, dass sein größter Erfolg bereits 21 Jahre zurück liegt. CAN´T WAIT UNTIL TONIGHT – kann in einer ausladenden Version auch schon mal über 10 Minuten verjazzt, versoult und verspielt werden. Oder positiv: Max Mutzke & die SWR BIG BAND holen zum Ende noch einmal alle Möglichkeiten ihres Könnens auf die Bühne.
Nach 22:00 Uhr (die arbeitende Bevölkerung im Publikum denkt unlängst an den morgigen Dienstbeginn), bittet die männliche Bühnencrew zur 20minütigen Zugabe. Neben mir steht die Frau, die kürzlich ohne mich in den Urlaub reiste. Max Mutzke verweist darauf, dass wir „soviel mehr“ sind.
Soviel mehr…als die Wohnung, die wir haben!
Soviel mehr…als die Urlaube, die wir machen!
Wir lächeln uns, leicht gequält, an. Darf ich es hier öffentlich benennen: den nächsten Urlaub würde ich gerne mit der Dame gemeinsam machen! Allein für die Erkenntnis bin ich Max Mutzke und den Herren aus Stuttgart (und der Umgebung bis Köln) dankbar.
Max Mutzke betonte am Konzertende auch, dass HAGEN SOVIEL MEHR ist. Für seinen ersten Auftritt in der „Grünen Hölle“ ist das eine fulminante Erkenntnis. Dennoch muss ich, zum Ende, dem Bühnenprotagonisten, eine Moderationsabfuhr geben: Mutzke dankt allen Menschen für den Besuch und die Mühen dafür.
Lieber Max Mutzke: „Danke für den Soul-Abend! Aber, es waren nicht so viele Babysitter im Publikum, wie Dir lieb waren! Wahrscheinlich waren bereits mehr Menschen im Zuschauerraum, die den persönlichen Pflegedienst früher bestellt hatten!“. Es war dennoch ein enorm kurzweiliger Abend. Keine Ahnung, wann ich morgen aus dem Bett komme.




