Mein Bus von der heimatlichen Haltestelle (nicht Busbahnhof) bis zur Stadthalle fährt um 17:41 Uhr. Im Bus vernehmen wir vier spätpubertierende Jungspunde, die im vermeintlich völkerverständigenden Neusprech miteinander kommunizieren. Mir geht das Bro-Gebrabbel seit einiger Zeit ziemlich auf die Nerven und auch die älteren Damen in der Sitzreihe hinter uns sind verwundert, dass „die Jugend wirklich so spricht“!? Glücklicherweise braucht der ÖPNV-Transfer nur knappe 20 Minuten bis zur „grünen Hölle“ am Wasserlosen Tal.
Gemeinsam mit meiner Lebensgefährtin, die mich heute begleitet, bin ich demnach frühzeitig an der KESH (KONGRESS- und EVENTPARK STADTHALLE HAGEN). Man hatte mich in dieser Woche von Seiten des KESH-Veranstaltungsmanagements noch einmal freundlich daran erinnert, dass der Auftritt von dem Churpfälzer Bülent Ceylan bereits um 19:00 Uhr beginnen wird. Ein weiteres Termindebakel vom Stadthallenschreiber möchte man dankenswerterweise verhindern. Ja, der verpasste Helge-Schneider-Auftritt hängt mir nach…
Wir gönnen uns ein sommerliches, weinhaltiges Kaltgetränk und einen kleinen Abendsnack, bevor wir jene Plätze einnehmen, die uns der Veranstalter des heutigen Abends zugewiesen hat.
Saß ich vergangene Woche noch in der hintersten Reihe, so war es heute ein Ehrenplatz in der zweiten Reihe. Dort nahm ich ehrfürchtig Platz – gehört der halbe Mannheim-Türke nicht zu jenen Bühnenmenschen, die gerne mit dem vorderen Publikum kommunizieren (um die Bloßstellung der Sitzplatzfavoriten freundlich zu benennen)!?
Erneut ist die Stadthalle ausverkauft. Bei den 1.600 Besucher:innen treffe ich auf (mir) bekannte Gesichter. Weggefährt:innen vom heimatlichen Brauchtum und meiner evangelischen Jugendarbeit sind anwesend, ehemalige Nachbar:innen und erstmals entdecke ich in der Halle auch eine aktive Vertreterin des Stadtrates – und der KESH-Kumpan Erich ist ebenfalls wieder zu Gast. Wir teilten zuletzt die Sitzplätze bei den AMIGOS – nunmehr beim heutigen, deutschen Kulturgut.
Zumindest die Damen der heutigen Darbietung haben ein Erkennungszeichen. Es sind alle Generationen vertreten (wie sich später herausstellt, selbst 11- & 12-jährige Kinder) und auch der Migrationsanteil ist deutlich höher als bei Dieter Nuhr oder den AMIGOS. Als Wiederkennung ihrer Anwesenheitsberechtigung haben die Damen sich still vereinbart: die Handtasche muss mit einem neumodischen, breiten Gurt quer geschultert sein.
Bevor das Programm beginnt, weisen zwei LED-Wände auf der Bühne sowohl auf die Einkaufsmöglichkeiten am Merch-Stand hin (u.a. gibt es die Möglichkeit für den morgigen Muttertag noch eine Kaffeetasse mit MUDDAA ISCH LIEBE DISCH-Schriftzug zu erwerben), sowie auf die Hinweise zu stroboskopischen Lichteffekten, die die epileptische Gesundheit verwirren könnten und die heutige Liveaufnahme des Auftrittes – man kann sich dann wohl beizeiten auf einer DVD bewundern.
Mit dem Hinweis UFFBASSE! ist man dann wohl ausreichend informiert und vorgewarnt … und darauf hingewiesen, dass man seinen Verzicht auf eine wirtschaftliche Vergütung bestätigt, indem man im Saal sitzen bleibt!!
Leider gibt es kein Veranstaltungsheft für den folgenden Auftritt. Lese daher auf meinem Mobiltelefon den Eintrag auf der KESH-Internetseite, um einen Einblick auf meinen ersten Bülent-Ceylan-Abend zu erhalten:
„Yallah Hopp!“ Das versteht jeder, egal ob Migrations- oder Kurpfalzhintergrund. Und selbst der Oxford-Deutsche begreift sofort: Bei BÜLENT herrscht Aufbruchstimmung! Corona ist besiegt, Prinz Charles endlich König und der Klimawandel kann sich auch schon mal warm anziehen. Oder besser kalt. Keine Panik auf der Titanic, Eisberge gibt’s eh keine mehr! BÜLENT zeigt den täglichen Hiobsbotschaften den Mittelfinger, um wieder mit Spaß in die Zukunft zu blicken. Harald entdeckt die Vorteile künstlicher Intelligenz beim Flirten. Anneliese denkt über die Möglichkeiten nach, sich von ihrem Mann zu trennen. Von A wie Anwalt bis Z wie Zyankali. Thor hat Arthrose im Hammer-Arm und sucht nun einen Hammer für Linkshänder. Hasan droht eine Haftstrafe, er plant seine Geschlechtsumwandlung. Wenn schon, dann Frauenknast. Mompfred hat die Nase endgültig voll von Deutschland und ist ausgewandert, auf Probe. Wenn nur die vielen Ausländer nicht wären…
Und Aufbruchstimmung herrscht natürlich auch bei BÜLENT. Nämlich morgens um 6 bei seinen Kindern, wenn er eigentlich ausschlafen will!
Nebenbei liegen auf den Sitzplätzen im Saal bereits Hinweise auf die folgende Tour „DIKTATÜRK“, die 2026 starten wird.
Um 19:05 Uhr startet, etwas urdeutschuntypisch verspätet, das Bühnenprogramm mit einem kleinen Introfilm – von jenem 49jährigen Mannheimer, der sein Publikum vom ersten Moment in seinen Bann zieht und begeistert. Bülent Mustermann – ein Mensch voller Empathie.
Wo ist sein Ablaufplan? Wo sein Textbuch? Da fasziniert ein Solokünstler über 2 Stunden sein Publikum – ohne technischen Aufwand und nur mit der Hilfe von vier halbherzigen Verkleidungen. Vom ersten Moment wird deutlich, dass es sich bei Bülent Ceylan um einen Profi mit (wie man an dem Abend lernt) 27jähriger Bühnenerfahrung handelt.
Ceylan begrüßt sein Publikum in der „grässlichsten, grünen Hölle“, in der er je gespielt hätte. Ihn erinnert das Haus an das Dschungelcamp – man kann noch nicht einmal die Mitte des Hauses ausmachen – „wahrscheinlich rechts von ihnen!“, lässt der Comedian am Anfang seiner Darbietung keinen Zweifel an seiner gesellschaftlichen Einstellung zur Entwicklung in seinem Heimatland und einer Welt von `Forrest Trump` und anderen Despoten! Sein weltpolitisches Fazit: „Mensch ist Mensch und Arschloch ist Arschloch!“
Der „süddeutsche Türke“ berichtet von seinem Zusammenleben mit seiner Ehefrau, die aus der hiesigen Region stammt und oftmals seine Auftritte „nicht witzig“ findet – schon gar nicht im heimischen Familienleben, am Küchentisch mit den drei Kindern. Eine vierte Tochter ist bereits erwachsen und lebt auf der anderen Seite des Globus. Bülent Ceylan führt mich zurück in die Pubertät meiner, ebenfalls längst erwachsenen, Tochter. Wie begegnet man dem ersten Freund der heranwachsenden Tochter? Bringt er Blumen mit? Verprügelt man ihn direkt beim Hereinkommen – für alle Vergehen, die der Jüngling noch an der Tochter praktizieren wird? Fragen, die mich vor einem Jahrzehnt ebenfalls umtrieben. Ceylan nennt es die Gedanken der Vaterreligion.
Das Leben des Mannes mit deutscher, 83-jähriger, Mutter und türkischem Vater ist gekennzeichnet von dem Multikulti-Gedanken, bei dem „Viel Berlin in Mannheim, bzw. Hagen steckt“! Dass er sich dabei über das Hagener Bahnhofsviertel und den Stadtteil Altenhagen belustigt, dürfte dem halbrecherchierten Bühnenprogramm geschuldet sein. Ansonsten lade ich Bülent Ceylan vor seinem nächsten Hagener Auftritt mal zu einer Stadtführung ein.
Im Verlauf des Programmes bekommen seine Bühnencharakter ihre Auftrittszeit: Thor, Anneliese, Mompfred, Harald und Hassan sind dabei. Jedoch anders, als im Vorbericht benannt! Übt der Künstler etwas schon an seinem neuen „Diktatürk“-Programm?
Nach der Pause, in der es für mich ein erneutes sommerliches, weinhaltiges Kaltgetränk gibt, fährt der Bühnensympath mit der Livekamera durch das Publikum. Wird meine Befürchtung der prominenten Platzwahl doch noch traurige Gewissheit? Frank – der Glatzkopf („Platte statt Matte“) aus Reihe 1 ist der Ausgewählte des Abends. In der zweiten Reihe darf man wieder entspannen!
Um 21:30 Uhr setzt Bülent Ceylan zu seiner abendlichen Schlussfolgerung an: man muss Meinungen (auch der Andersdenkenden) aushalten können! Und: Wörter verletzten mehr als Waffen.
Er erhält stehende Ovationen (das Brot der Künstler:innen) und bedankt sich mit seinem Abschiedslied im Lichtermehr der Mobiltelefone: „Wohin Du gehst?“. Es ist seine Liebeserklärung in die weltweite, entfernte älteste Tochter.
Hach.
Um 21:40 Uhr geht das Hallenlicht wieder an – nachdem der bekennende Evangele Bülent Ceylan dem Publikum Gottes Segen gewünscht hatte.
Mitten im Programm erteilte Bülent Ceylan, der Mann mit dem sympathischen Lächeln, eine Hausaufgabe, über die auch ich noch etwas nachdenken werde: „Wenn ein Veganer ‚Schmetterlinge im Bauch‘ hat, ist er dann noch Veganer!?“
Der Nicht-Schwabe hielt, was er versprach: zwei Stunden besten Spaß – ohne Nachdenken und einfach für das Wohlgefühl. Oftmals leicht am Rand des „das darf man doch nicht sagen“ – oder eben halt mal doch!
Wir erreichen den Linienbus um 21:48 Uhr, der uns wieder zurück nach Eckesey bringt. Es sitzen erneut vier sportliche Jungspunde auf den gegenüberliegenden Sitzen. Glücklicherweise steigen die Miniherren wenig später aus: nach über zwei Stunden Migrantendialekt fehlt mir der Nerv für diese Sprechweise – von etablierten Möchtegernmigranten.