Nachdem ich kürzlich den Helge-Schneider-Aufritt in der Stadthalle verpasst hatte, weil ich mir die Anfangszeit falsch notiert hatte, schaue ich nunmehr genauer hin: was am heutigen Tag von besonderer Bedeutung ist.
Die Anfangszeit des heutigen Jubiläumskonzertes der AMIGOS erinnert an die ersten Auftritte der Beatles und Rolling Stones in der Essener Grugahalle in den 1960er Jahren: den Erzählungen nach, starteten damals die Konzerte der BRAVO-Tourneen ebenfalls bereits um 15:00 h.
Die Besucher:innen am heutigen Tag sind in einem Alter, welches die Möglichkeit mit sich bringt, dass sie bereits die Herren aus Liverpool und London damals hätten live erleben können. Wahrscheinlich schwärmte das heutige Publikum seinerzeit aber eher für Freddy Quinn und Connie Francis.
Bin gegen 14:00 h an diesem sommerlichen Samstag mit dem Vespa-Roller an der Halle vorgefahren – pünktlich zur Öffnung der Hallentüren. Beeindruckend ist sofort die Vielzahl an Rollatoren, die von ihren Besitzer:innen Richtung Eingang geschoben werden. Begleitet werden die Senior:innen von diversen Familienangehörigen. Es wirkt glückselig, wenn die Großmutter von dem erwachsenen Enkel im NIRVANA-Hoodie zum AMIGOS-Konzert begleitet wird…
Auf dem Weg zur Stadthalle sehe ich hinter der Marktbrücke fünf junge Herren spazieren. Denke mir, dass diese einen typischen Junggesellenabschied feiern und auf dem Weg zum Elbers-Gelände sind. Weit gefehlt: eine Viertelstunde später stehen die Herren wohlgelaunt im Foyer der Halle neben mir. Sie sind, wie sich am Nachmittag herausstellt, überzeugte und textsichere Fans der Brüder Karl-Heinz und Bernd Ulrich.
Mir war nicht bewusst, worauf ich mich bei diesem Konzert einlasse. Gerne hätte ich Sachverstand an meiner Seite gehabt, der mich über das jahrzehntelange Erfolgsrezept des „erfolgreichsten Schlagerduos Europas“ aufklärt. Mein Aufruf in den Sozialen Medien, unterstützt von Radio Hagen, blieb dabei leider erfolglos – und selbst meine 85jährige Großcousine war dankbar für ihre langanhaltende Erkältung. Nur, um mich nicht in die Halle begleiten zu müssen.
Schlendere also alleine durch das Foyer, wo ich erneut auf den „Stadthallen-Kollegen“ Erich Alshut treffe. Dessen Partnerin wäre meine korrekte, sachkundige, Begleitung. Sie hat aber am heutigen Tag andere Heimattermine und steht uns nicht zur Seite. Erich schnappte aber von etwaigen AMIGOS-Ultras die Aussage auf, dass der Nachmittag sowas wie ‚Woodstock in Hagen‘ ist. Ich bin gespannt. Sehe niemanden mit Blumen im Haar.
Bevor die Halle öffnet und die 900 Gäste ihre Plätze einnehmen, treffe ich im Foyer noch auf eine Familie aus Velbert. Nachdem ich ein Handyfoto von den Dreien gemacht habe, frage ich sie um den, mir fehlenden, Sachverstand: die AMIGOS singen vom Leben, lerne ich. Sie drücken in ihren Liedern aus, wie es in den Menschen vorgeht. Die Mama geht am Rollator und bekommt nach dem Weg zur Halle kaum Luft. Die Tochter und der Schwiegersohn versprechen, gleich dennoch mit der Mama in der Halle „richtig Party zu machen“. Das glaube ich den Dreien aus dem Bergischen sofort. Die Mama erzählt mir noch, dass sie zuhause mehrere Kartons voll Presseartikeln und Erinnerungsstücken von den AMIGOS hat… und ihr Schwiegersohn schenkte ihr soeben noch eine Kaffeetasse vom Merchandisestand. Der Dame schossen dabei die Tränen in die Augen – und ich verstand so langsam, wo ich mich hier befand.
Bereits vor dem Einlass in die Halle standen am besagten Verkaufsstand bereits Bernd Ulrich und seine Tochter Daniela für Autogrammwünsche, Fotos und einen Plausch zur Verfügung. Soviel Künstler:innen-Nähe gibt es eher selten VOR einem Auftritt.
Treffe vor dem Einlass auch die junge Herren-Garde, die mir erzählen, dass einer der Truppe eingefleischter AMIGOS-Fan ist und seine Freunde in der Leidenschaft mitzieht. Ein anderer der Jungs arbeitet „auf dem Bau“ – da hört man die Musik ja täglich. Die fünf Hallenjüngsten (naja… abgesehen von ein paar wirklich kleinen Kindern, die die Großeltern begleiten) lassen diesbezüglich Radio Regenbogen hochleben. Währenddessen rüstet sich die Boygroup aus dem benachbarten Wuppertal mit Basecaps am Verkaufstand ein: der Renner am heutigen Tag sind die Kappen und T-Shirts, mit Glitzerschriftzug AMIGOS. Unisex. Bevor ich in die Halle gehe, versprechen mir die Jungs noch generationsübergreifende Musik – mit dem notwendigen Mitsingcharme.
15 Minuten vor Konzertbeginn nehme ich meinen Sitzplatz ein. Block C, Reihe 13, Platz 6. Drei Reihen hinter dem Mischpult, mit (fast) zentralem Blick auf die Bühne. Vor dem Konzert erscheint auf der Bühnenpräsentation ein Hinweis auf das neue Album, welches im Sommer erscheint. Der Titel passt allerdings bereits heute: AMIGOS – LEBE JETZT. Manchmal kann ein Slogan so einfach und angenehm sein.
Das Bühnenbild zeigt die Silhouette einer altgriechischen Festung, bzw. derer steinigen Überreste. Auf den Leinwänden läuft dazu eine Aquariums-Szenerie – natürlich ohne irgendwelche „Flippers“.
Um 15:01 h geht das Licht in der Stadthalle aus und dem Publikum wird ein kleiner Einspieler gezeigt. „Für unsere Freunde“, begrüßen die Brüder aus Villingen/Hessen und Echo-Preisträger das Publikum in Hagen… und dann beginnen „die Träumer auf dem Weg ins Nirgendwo“ ihr fast zweistündiges Discofox-Feuerwerk. Mir ist kein Lied vorab bekannt, aber spätestens bei der Hommage an James Dean nicke ich im Takt der beiden Mitsiebziger mit.
Mit dem siebten Song PHARAO knacken die Ulrich-Brüder im Halbplayback das Publikum…also…ihr Publikum…also…mich. Ich singe mit: PHARAO, WENN DU SIE GESEHEN HAST, SAG MIR WO…
Es folgt die erste Auskopplung aus dem neuen Album, welches im Sommer erscheint. Ich fühle mich irgendwie bestätigt, auch wenn die Aussage eine andere scheint: „Wir machen es wie die ROLLING STONES“.
Kurz danach übernimmt der Gaststar des Nachmittags die Bühne: DANIELA ALFINITO scheint die Tochter von Ulrich-Bruder Bernd zu sein und darf das Bühnenprogramm vor und nach der Pause im Hitmix-Rhythmus ergänzen. Nach den ersten zwei Daniela-Liedern weiß das konzerterprobte AMIGOS-Publikum Bescheid: die ersten Fans verlassen die Halle, um vor der Pause auf der Toilette zu sein.
In der Pause erinnere ich mich an meine seltenen Schlagerausflüge: ich sah zufällig Howard Carpendale in Düsseldorf (von seiner Autogrammstunde im Eckeseyer Kaufpark bin ich nach Jahrzehnten noch traumatisiert) und genoss mehrfach Udo Jürgens, der für mich nicht der Schlager-Welt angehörte. Ein Konzert von Marianne Rosenberg im Dortmunder LAUFSTEG war mir verwehrt worden, da der Security mein Outfit damals nicht imponierte. Ansonsten spielt sich meine musikalische Leidenschaft größtenteils außerhalb der Welt von Dieter-Thomas Heck und seinen Nachfolger:innen ab.
Erst beim zweiten Lied nach der Pause nehmen die Wuppertaler Jungs ihre Sitzplätze wieder ein – derweil hat in Reihe 14 der sympathische Enkel seine, ebensolche, (Groß-?)Mutter erneut im Discofox durch die Sitzreihe geführt – zur großen Freude der alten Dame und der wohlmeinenden Sitznachbarschaft.
Gegen 17:00 h übernehmen die AMIGOS wieder die Bühne und erinnern an ihre Tätigkeit als Botschafter des „Weißen Ring“. Im Schlager finden Themen wie ‚Obdachlosigkeit‘ und ‚Kindesmissbrauch‘ statt – von der Betroffenheit her lässt Jonny Hill grüßen: „Ruf Teddybär 1-4“.
Bernd Ulrich verwöhnt das heimische Publikum mit seinem Hinweis, dass er im Hagener Publikum nur in Engelsaugen blicke – danach geht es in den Zugabenteil. Der AMIGOS-Hitmix ist der „helle Wahnsinn“ und lässt die anwesende Rollatoren- und Gehhilfefraktion noch einmal die „Hände nach oben“ klatschen. Jede Physiopraxis sollte sich dringend, für die entsprechende Altersklasse, eine AMIGOS-Musikliste anschaffen. Am Merch-Stand werden auch CDs angeboten…
Um 17:45 h ist das Spektakel vorbei. Mir bleibt nur der Respekt vor einer, mir fremden, Musikrichtung, die mit Herzblut viele Menschen glücklich macht. Chapeau, AMIGOS.
Zwei Stunden später sitze ich im Kino: es gibt das Kontrastprogramm für die gleiche Altersgruppe: Like A Complete Unknown – über den Karriereweg von Bob Dylan. Kultur kann so umfangreich sein – und so viele Herzen erreichen.